Manche Menschen sind überzeugt, dass ihre religiöse Einstellung oder Spiritualität sie zum ethischen Handeln motiviere. Andererseits kann Religion auch zu Verhärtung und Missgunst gegenüber Andersgläubigen oder -denkenden führen; ebenso wie areligiöse Doktrine Menschen zu blinder Verfolgung ihrer Ideale und Missachtung sogar der grundlegendsten Menschenrechte verleiten können.
Auch das unter dem Namen «Böckenförde-Diktum» bekannt gewordene Zitat von Ernst-Wolfgang Böckenförde, Richter am deutschen Bundesverfassungsgericht von 1983 bis 1996, sollte dies zum Ausdruck bringen:1
„Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“
Es ist keine Selbstverständlichkeit, dass etablierte Religions- und andere Gemeinschaften allgemeine Grund- und Menschenrechte als vorrangig gegenüber den eigenen traditionellen Sittenvorstellungen anerkennen. Der Rechtsphilosoph John Rawls (1921-2002) sprach in dieser Hinsicht von einer Priorität des Rechts gegenüber partikulären Ideen des Guten, über welche letztere in einer pluralistischen Gesellschaft kein umfassender Konsens erreicht werden kann, und daher auch nicht mit Gewalt zu erzwingen versucht werden soll.2 Die Anerkennung von durch unsere Vernunft nicht aufhebbarem weltanschaulichem Dissens führt aber zu einen „vernünftigen überlappenden Konsens“ vernünftiger Lehren hinsichtlich der zentralsten Prinzipien der allgemeinen Menschen- bzw. Grundrechte, wie etwa der Meinungs- und Religionsfreiheiten.
Da solche an allgemeinen Prinzipien der Fairness orientierten Konzepte mit der jeweils vertretenen umfassenden (religiösen oder nichtreligiösen) Weltanschauung kompatibel und somit innerhalb dieser vertreten werden können sollten, sprach Rawls auch von «Modulen», die in jeder mehr oder weniger vernünftigen partikulären Weltanschauung integriert sein sollten. In diesem Sinn gibt es nicht den religiösen Glauben oder die (religiöse oder nichtreligiöse) Weltanschauung, sondern je durch historische Erfahrungen geprägte, im jeweiligen kulturellen und politischen Kontext reflektierte Interpretationen. Konflikte lassen sich nicht vermeiden, aber es gibt Möglichkeiten friedlicher Konfliktbewältigung. „Ethik ist wichtiger als Religion“ kann in dieser Hinsicht auch bedeuten: Recht nicht in rigider Weise auszulegen, sondern auch hier Vernunft und Augenmass walten zu lassen. Die Schweizerische Bundesverfassung sieht sogar ausdrücklich einen Abwägungsvorbehalt für Konfliktfälle vor (Art. 5 Abs. 2 BV):
Staatliches Handeln muss im öffentlichen Interesse liegen und verhältnismässig sein.3
1 Böckenförde, E.-W.: Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation. S. 42-64 (speziell S. 60) in: Staat, Gesellschaft, Freiheit. Studien zur Staatstheorie und zum Verfassungsrecht (Frankfurt a. Main 1976). Böckenförde nahm in einem Interview mit der Berliner Tageszeitung TAZ (23.9.2009) zum Einwand des Interviewers, «Kritiker werfen Ihnen vor, dass Sie die ethische Kraft der Religion überbetonen») präzisierend folgendermassen Stellung: «Diese Kritik übersieht den Kontext, in dem ich 1964 diesen Satz formuliert habe. Ich versuchte damals vor allem den Katholiken die Entstehung des säkularisierten, das heißt weltlichen, also nicht mehr religiösen Staates zu erklären und ihre Skepsis ihm gegenüber abzubauen. Das war also noch vor 1965, als am Ende des Zweiten Vatikanischen Konzils die katholische Kirche erstmals die Religionsfreiheit voll anerkannte. In diese Skepsis hinein forderte ich die Katholiken auf, diesen Staat zu akzeptieren und sich in ihn einzubringen, unter anderem mit dem Argument, dass der Staat auf ihre ethische Prägekraft angewiesen ist.»
2 Sehr empfehlenswert in dieser Hinsicht: Political Liberalism (expanded Edition, New York 2005) von John Rawls. Einiges daraus ist auch zusammengefasst nachzulesen in meiner Dissertation Verfassungsgerichtsbarkeit im Fokus der deliberativen Demokratie (erschienen im Tectum Verlag 2015).
3 Darüber hinaus lesenswert: Rechtsstaat und Widerstand, von Prof. Dr. rer. publ. Andreas Kley.